Horatio VI/1

Horatio schrieb:

Öppa

Hatte ich schon erwähnt, dass hier normalerweise selten jemand vorbeikommt? Normalerweise! In letzter Zeit ist es hingegen wirklich etwas unruhig, ich muss schon sagen. Möglicherweise liegt es am Regen, aber gestern hatten wir schon wieder Besuch.

Nics und mein erstes Frühstück ist um vier Uhr morgens. Dann beginnt der Arbeitstag mit dem Füttern der Hühner. Um sieben Uhr haben wir ein zweites Frühstück. Nic und ich saßen gestern gerade bei diesem zweiten Frühstück in der Küche als unsere Wachgänse anschlugen. Hunde mögen wir aus verschiedenen Gründen nicht und Gänse haben schon Rom vor den Kelten gerettet, deshalb sind ist dieses Federvieh auf jeden Fall die bessere Wahl.

Da die Wachgänse in der Regel schon anfangen Laut zu geben, wenn die sich dem Hof nähernden Personen noch eine Meile entfernt auf dem Stichweg sind, konnte ich in aller Ruhe noch meine Tageszeitung von 1962 zu Ende lesen. Morgen sind die Nachrichten von heute sowieso veraltet, deswegen muss man gar nicht immer das neueste Exemplar haben. Währenddessen nahm Nic beiläufig die Schrotflinten von der Wand; gedankenverloren „Als die Römer frech geworden“ summend. Ich trank meinen Kaffee aus und nahm eine der Knarren von ihr entgegen, dann bezogen wir unsere Positionen.

Traktorengeräusche wurden lauter.

Stimmen.

Schritte … und dann … oh, nein!

Dann hörten wir das wohlvertraute „Höhöhöhö, jajajaja!“

Nic nahm die Schrotflinten und hängte sie wieder an ihren Platz. Wir hatten nicht vor Öppa wegzublasen.

Zumindest nicht heute.

Öppa ist Nics Urgroßvater oder vielleicht sogar Ururgroßvater. Es kann auch sein, dass beides stimmt, aber Nic ist immer etwas sauer, wenn ich das erwähne. Sie mag außerdem nicht, dass ich behaupte, die Isolation mancher Höfe hätte immerhin zu solchen evolutionären Verirrungen wie ihren Brüdern geführt (während sie mir hinsichtlich H.B. eindeutig recht gibt).

Jedenfalls ist Öppa ungefähr plus minus 117 Jahre alt. Genau weiß man es nicht, weil die Leute wegen der weiten Wege früher hier nicht unverzüglich zum Amt gefahren sind sobald ein Kind geboren wurde. Man meldete die Geburt eines Kindes halt dann an, wenn man gerade sowieso in der Stadt Geschäfte zu erledigen hatte. Manchmal dauerte das etwas länger bis es wieder soweit war, so dass so mancher beim Anmelden seines Nachwuchses auch gleichzeitig seine eigene Geburtsurkunde ausstellen lassen konnte.

Wir öffneten die Tür und dort stand Hannibal, einer von Nics Brüdern, zusammen mit seiner Frau Adelheid und eben Öppa.

Auf dem Land gibt es sie noch, die Großfamilien. Hier werden die Alten Leute nicht ins Pflegeheim abgeschoben und können ihren Lebensabend zusammen mit den jüngeren Generationen verbringen. Eine nicht unwesentliche Rolle spielt dabei, dass den Bauern die Heimkosten nicht gefällig sind. Im Gegenteil – wenn man auch noch das Geld von der Pflegeversicherung abzocken kann, ist so ein Senior richtig einträglich. Aus nicht ganz vollständig geklärten Umständen war es möglich, dass Öppa die Pflegestufe 5 (!) erhalten hatte. Ich habe niemals gehört, dass jemand anderes sonst diese Pflegestufe bekommen hätte. In Öppas besonderen Fall sollen bei dem Besuch des Krankenkassensachverständigen eine hier landläufig übliche, schwarzgebrannte Holunderspirituose, ein Knüppel auf den Sack und zwei Minuten auf der Zuchtbullenweide rasch zu einem für die Versicherten befriedigendem Ergebnis geführt haben. Ein Lehrstück für alle, die erst dreimal Einspruch erheben müssen, um überhaupt eine Pflegestufe anerkannt zu bekommen.

Eine weitere erwähnenswerte nicht unwesentliche Rolle, warum Öppa im Haushalt von Hannibal und Adelheid lebt, mag sein nicht unbeträchtliches Vermögen spielen, welches zu erben sich die beiden davon versprechen.

Öppa muss man sich so vorstellen: debil grinsend, keine Zähne mehr im Mund und in einem geistigen Zustand wie jemand der Alzheimer, Demenz, Tourette und Parkinson in unterschiedlich fortgeschrittenen Stadien gleichzeitig hat. Oder er tut nur so, keine Ahnung. Meistens hört man von ihm nur das obligatorische „Höhöhöhö, jajajaja!“, zwischendurch jedoch scheint er temporär völlig klare Gedanken zu fassen oder er zitiert plötzlich Kants kategorischen Imperativ.

Tja, und nun hatten sie ihn bei uns gelassen. Es täte ihm sehr leid, meinte Hannibal aber er hätte zur Erweiterung seines Streichelzoos für Touristenkinder und Adelheids Reittherapiezentrum einen Elefanten gekauft und den müssten die beiden nun in der Schweiz abholen. Deshalb gäbe es kein „wenn und aber“, Öppa müsse für zwei Tage irgendwo bleiben und sie sorgten eh schon die ganzen Jahre für ihn und wenn man uns ein einziges mal um etwas bäte, seien wir schon Unmenschen, wenn wir Öppa nicht vor einer kurzzeitigen stationären Unterbringung bewahren wollten. Sprach’s und fort waren sie.

Nic und ich schauten uns ratlos und fragend an. Hier saßen wir, in der Küche mit Öppa auf der Eckbank, der bester Laune war und uns auf seine Art mitteilte, dass er sich freute, Nic bei nächster sich bietender Gelegenheit einen kräftigen Klaps auf den Arsch zu verpassen: „Höhöhöhö, jajajaja!“

Fortsetzung folgt

4 Comments

  • Stephan sagt:

    Mister, verdammte Hacke ! Warum ist jetzt Wochenende…! Grr, dass schreit doch nach baldiger Fortsetzung und jetzt muss ich noch bis nächste Woche warten. Son Mist, aber mal sehen was Öppa alles so anstellt, beid em lagen Wochende… „Höhöhöhö, jajajaja!“

  • Der Werrentner sagt:

    Grandios, ich kann das nur wiederholen.

    Du solltest damit vor gefüllten Hallen auftreten. Brüll dazu ein paar Mal wirr “Nußloch, kennse? NU?LOCH!”, dann gröhlt der Pöbel!

    Übrigens hat mich das animiert, meine Tätigkeiten auch mal wieder aufzunehmen. Allerdings ohne Exklusiv-Vertrag. Sondern an gewohnter Veröffentlichungsstelle!

  • Nicole sagt:

    Wieder mal richtig gut. Ich musste wirklich herzlich lachen und freue mich auf die Fortsetzung.

  • nina sanders sagt:

    Whouuuuw, Wahnsinn. Das wird ja immer besser. Ich will sofort wissen, wie es weitergeht.
    Und ich dachte immer, in der Stadt were was los, war wohl nen Irrtum. Ich will auch aufs Land. Vielleicht hast du ja noch ein bisschen platz für mich, dann zieh ich sofort ein.dann krieg ich hautnah und life mit, wie es weitergeht. ich bin blond, aber nicht blöd, 37 jahre jung, also im besten alter, und kann auch beim füttern der Tiere und so mithelfen, na wie wär`s? Und Öppa würde ich gern kennenlernen. Ich hab auch Führerschein, da komm ich sicher mit einemn Trecker klar. Bye the way, Ich hatte doch ne Vermutung, wer du bist, lieber Autor. Durch Recherche, für die ich viel Zeit inwestiert habe,habe ich meine vermutung verstärkt. Na, neugierig? Dann schreib schnell weiter, dann kann ich mich auch wieder an dich schreiben.
    gruß und Kuß,
    Deine Nina

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