Voll auf die 12 – Die Geschichte des Kirmesboxen

Die Anfänge des Kirmesboxen

Barnstaple Fair, South West England, Grafschaft Devon. Du stehst blutend im Ring von Sullivan’s Boxing Show und weißt nicht mehr, wo die Glocken hängen. Du siehst nur noch verschwommen, du taumelst während die Menge johlt und Schweiß von der Pavillondecke tropft. Es ist heiß und stickig, man bekommt kaum Luft und du willst nur noch nach Hause. Noch ein weiterer Kinnhaken von dem rothaarigen Muskeltier mit dem freundlichen Gesichtstattoo und deine Reiseversicherung kümmert sich um die vorzeitige Rückreise. Wärst du mal zum Pferderennen oder ins Wettstudio gegangen. Aber letzten Endes bist du selbst schuld – erst in England die Reisekasse versaufen und dann nach acht großen Pale Ale schnurstracks mit dem Mut der Verzweiflung in Richtung Kirmesboxring getorkelt. Kirmesboxen – der letzte Schrei auf jeder Dorfkirmes, ehe Autoscooter, Wilde Maus und Breakdancer zur Nummer eins der vergnügungssüchtigen Arbeiterklasse wurden.
Die Anfänge des Kirmesboxens liegen mittlerweile 200 Jahre zurück.

Um 1800 waren Jahrmärkte noch keine epilepsieauslösenden Wanderveranstaltungen, auf denen Aussteller sich mit möglichst viel Bass und Strobo-Licht duellierten um Kunden wie Fliegen anzulocken, wie heute auf Crange. Es ging beschaulicher, aber nicht weniger sensationsgeil zu. Siamesische Zwillinge und Kleinwüchsige wurden in Freakshows ausgestellt, beim Messerwerfen ging schon mal was daneben und Scharlatane tarnten sich als Wahrsager, um Leichtgläubigen und Verzweifelten das letzte Geld aus der mehrfach gestopften Sonntagshose zu ziehen. Wer sich nicht für zusammengewachsene Menschen und Esoterik interessierte, der ging in eine der zahlreichen Boxing Shows. Doch nicht um sich verprügeln zu lassen. Dass Zuschauer mit der Aussicht auf Geld bei Sieg in den Ring steigen, war Anfang des 19. Jahrhunderts verpönt und galt selbst innerhalb der Arbeiterklasse als prollig und unangebracht. Die ersten 150 Jahre des Fairground Boxings waren geprägt durch Kämpfe zwischen talentierten

Jungboxern, die das Kirmesboxen als Sprungbrett nutzen wollten und sich so einem breiten Publikum stellten. Die Zuschauer blieben artig außerhalb des Rings und wie alles, wo Wettgewinne winken, ist auch das Fairfighting eine britische Erfindung. Von der Insel schwappte das Kirmesboxen über den großen Teich in die USA, wo es bei Freunden rustikaler Sportarten nicht weniger beliebt war. Im alten Europa hingegen blieb es immer eher eine Randerscheinung. Wahnsinn überließ man seit je her vorrangig den Angelsachsen. Denn auch wenn sich in der Anfangszeit des Kirmesboxens trainierte Amateure gegenüberstanden und nicht unbedarfte Zuschauer von angestellten Jahrmarktsboxern verhauen wurden, war der Boxsport des frühen 19. Jahrhunderts nichts für zarte Gemüter. Bis zur Einführung der Queensberry-Regeln 1867 boxte man bare-knuckle, also ohne Handschuhe. Snatch-Fans wissen, dass man nach so einem Kampf aussieht wie Tomatensuppe mit Ohren.
Das Kirmesboxen war in der Zeit vor Rundfunk, Fernsehen und Wochenendreisen für die meisten Menschen die einzige Möglichkeit, Boxkämpfe live zu verfolgen.

Einer der berühmtesten Kämpfe

Als einer der berühmtesten Kämpfe der frühen 1800er-Jahre gilt das Duell zwischen Bill Neat und Tom ‘The Gasman’ Hickman vor über 20.000 Zuschauern. Hickman legte gut los, doch verausgabte sich zu schnell. Neat kam aus der Deckung und prügelte Hickman bis zur 18. Runde windelweich. Hickman erkämpfte sich jedoch tapfer den Respekt der grölenden 20.000, indem er tapfer bis zur letzten Runde einsteckte, ehe er in der 18. zu Boden ging und der Kampf abgebrochen wurde. Unglaubliche 150.000 Pfund Wetteinsatz waren im Pott. 150.000 Pfund in einer Zeit, in der ein Arbeiter mit seinem Lohn seine Familie in den meisten Fällen nicht ernähren konnte. Kein Wunder, dass Kirmesboxen damals so populär wie Champions League gucken heute ist.

“In the old days you know we fought with bareknuckles and the punishment was greater than nowadays. I think men were harder, too. I think so, but then you see I’m an old man and we old ‘uns always think that our times were the best and our men the greatest.”

Kirmesboxer Jem Mace im Jahre 1910

Die bereits erwähnten Queensberry-Regeln sorgten dafür, dass das Boxen etwas gesitteter von statten ging und sich der Sport von nun an spürbar vom Ablauf einer Kneipenschlägerei unterschied. Doch auch wenn fortan mit Handschuhen geboxt wurde und dadurch nicht jeder Kampf zwingend in einem Blutbad endete, riss die Popularität des Boxens nicht ab. 1900 gab es allein in Großbritannien um die 100 umher reisenden Boxing Shows, die viele berühmte Boxer ihrer Zeit, wie Randy Turnpin, Freddie Mills oder Jimmy Wilde, genannt Mighty Atom, hervorbrachten.

Kirmesboxen in der Neuzeit

Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg verkam das Kirmesboxen zu einer zwielichtigen, runtergekommenen Veranstaltung mit Muskel- und Zuschauerschwund. Wer sich überhaupt noch vorm Radio oder TV aufraffen konnte und zur Kirmes ging, der wollte Bumsauto oder Achterbahn fahren. Kirmesboxen wurde ein interaktiver Zuschauersport, bei dem sich angetrunkene in Aussicht auf hohe Preisgelder die Omme einhauen ließen. Wenn kein Zuschauer sich bereit erklärte, in den Ring zu steigen, wurden Kämpfe inszeniert und wenn sich jemand fand, der gegen einen der angestellten Lohnboxer kämpfen wollte, so lagen die Siegchancen eigentlich immer im 1-Prozent-Bereich. In Deutschland gibt es heute noch zwei Box-Buden. Eine davon ist der Fight Club von Charly Schultz. Und auch wenn es heute nur noch um die Belustigung des Plebs geht, wenn sich junge Männer ohne Kampferfahrung und realistische Siegchance von Preisboxern vor Publikum verprügeln lassen (man muss gegen sechs Boxer gewinnen, um einen Gewinn im niedrigen vierstelligen Bereich mit nach Hause zu nehmen…), so lohnt sich der Besuch des Fight Clubs in Herne oder auf der Rheinkirmes allein schon wegen Charly und seiner Pressstimme. Der Stuttgarter Ex-Boxer ist Rock’n’Roll und allein seine heiseren Ansagen sind den Eintritt wert. Man muss ja nicht gleich nach dem vierten Pils in den Ring steigen…

Text: Norman Gocke