Horatio XII/1

RocknRoll forever

Horatio schrieb:

Weihnachtsvorbereitungen

Hier auf dem Land ist man oft auf gegenseitige Hilfe angewiesen. Nics Bruder Hector hatte uns eingeladen, er hätte eine große Sache vor und er bräuchte dazu unsere Hilfe. “Bei dem Wetter!” motzte Nic, denn der Schnee draußen hatte sich durch Tauwetter während der letzten Tage in fiesen Schneematsch verwandelt und je nach Tageszeit versank man darin oder alles gefror wieder zu Eis. Außerdem lag dichter Nebel über dem Land, man konnte nur 15 Klafter weit sehen.

Im Winter ruht der Bauer, da gibt es bei weitem nicht so viel für ihn zu tun wie in den restlichen Jahreszeiten. Darum hatte ich Zeit und Gelegenheit gehabt, ein Kettenfahrzeug zu reparieren, das jemand herrenlos bei uns zurückgelassen hatte. Dieses Fahrzeug eröffnete uns im Gelände völlig neue Möglichkeiten. Wir waren dadurch bei tiefem Schnee nicht mehr so ganz von der Umwelt abgeschlossen.

Spätnachmittags machten wir uns auf. Nic saß am Lenkrad und steuerte die Raupe auf den Stichweg. Um diese Jahreszeit ist schon sehr früh dunkel und der Nebel machte es nicht gerade besser. Den Stichweg kennen wir aber so gut, da könnten wir uns auch blind zurechtfinden, deswegen gab Nic gut Gas “Läuft rund!” lobte sie mich.

“Jau.”

“Hast den Motor wirklich fix repariert. War’n Kinderspiel, hm?”

“Jau.”

“Hätt’st auch die Scheinwerfer machen können, mein Lieber!”

“Oh.”

Fast im selben Moment hörten und spürten wir einen dumpfen Schlag und das Fahrzeug ruckelte, als wenn wir über eine grobe Bodenunebenheit gefahren wären. “Pass auf, dass wir nicht im Graben landen!” rief ich.

“Ich glaube, mir ist gerade was vor die Ketten gelaufen.”

“Was denn?”

“Kann ich nicht sagen, man sieht ja nichts. Vielleicht ein Reh oder ein Wildschwein.”

“Das wäre ein prima Braten für Weihnachten, halt mal an!”

Wir stiegen also aus und suchten den Stichweg ab. Wir hatten das Biest wohl nicht richtig erwischt. Zwar fanden wir eine Blutspur, aber sie zog sich weit ins Unterholz hinein. Nic winkte ab “Bei dem Nebel finden wir das Tier niemals. Außerdem möchte ich nicht weiter in diesen Wald gehen. Da drin ist irgendwas. Lass uns weiterfahren.”

“Hier sind auch Kleidungsfetzen. Tragen Wildschweine Baumwollkleidung?”

“Was weiß denn ich? Vielleicht war dem Keiler kalt. Mir ist jedenfalls kalt. Komm weiter! Du weißt es und ich sag es noch mal: in dem Wald ist irgendwas.”

Nun, sicherlich, in jedem Wald ist irgendwas, zum Beispiel Gestrüpp, Vögel, Braun-, Schwarz- und Rotwild, Hügelgräber, Sittlichkeitstäter und anderer Zivilisationsmüll und vor allem Bäume. Irgendwas ist immer im Wald. Was Nic meinte: in diesem speziellen Wald war etwas, das dort nicht sein sollte. Etwas, das grässlich und bar jeder Beschreibung war, etwas unheimliches und wahrscheinlich sehr gefährliches. Jedermann zwischen Butentrop und Brooktrop wusste das und wenn es sich irgendwie vermeiden ließ ging man nicht in diesen Wald hinein. Schließlich, wenn man was Grässliches sehen wollte, war Hannibal Pannenbeckers Frau Adelheid schon grässlich genug. Ab und zu waren Touristen in diesen Wald hineingegangen und sie waren nicht wieder raus gekommen. Jedenfalls nicht auf dieser Seite.

Richtig, für sich genommen ist das noch nichts besonderes, denn Touristen finden meistens nicht alleine aus dem Wald heraus. Allerdings war niemand bereit, sie in diesem Wald zu suchen, auch nicht für Geld und das will bei Bauern was heißen.

Wir entschieden uns, weiterzufahren und kamen etwa eine dreiviertel Stunde später bei Hector an. Hectors Frau servierte uns Apfelkuchen, der ohne Eier gebacken war und Obstler. Dann erfolgte der streng zeremoniell festgeschriebene etwa halbstündige Austausch von Neuigkeiten, der hier auf dem Land die sogenannten neuen Medien wie Fernseher, Radio und Wochenschau im Kino ersetzt und im übrigen auch informativer ist.

Kurzer auf ex.

“Kautabak?”

“Jau.”

Kurzer auf ex.

“Wie iss?”

“Muss. Un’ selbs’?”

“Muss.”

Kurzer auf ex.

“Wat los?”

“Wetter’s mies?”

“Jau, dat Wetter.”

Kurzer auf ex.

Nachdenken.

Kurzer auf ex.

Irgendwann wurde uns warm und Hector kam zur Sache.

“Wie ihr wisst, kommt dienstags immer das Postautomobil in diese Gegend. An sich ist es schon eine Frechheit, dass wir nicht wie andere täglich mit Post versorgt werden. Aber davon mal abgesehen, habt ihr schon alle Weihnachtsgeschenke?“

Nic und ich schauten uns an.

„Für wen?“ fragte Nic

„Äh, füreinander? Für die Familie?“

„Wir schenken uns mit der Familie seit Jahren nichts, das weißt du doch. Und gegenseitig schenken wir uns auch nichts. Wenn wir was brauchen, haben wir jederzeit entweder das Geld es uns zu kaufen oder wir haben es eben gerade nicht, dann ‚beschaffen’ wir es uns. Wer was verschenkt will außerdem meistens ein Geschenk zurück, also ist es dann quasi gar kein Geschenk, sondern eine Leihgabe.“

„Ich hab Nic mal was geschenkt, zum Hochzeitstag.“ fügte ich hinzu.

„Was denn?“

„Einen Käsehobel.“

„Na, siehst du. Sie hat sich doch sicher sehr darüber gefreut, oder?“

„Soll ich dir die Narben zeigen?“

„Nein, nein.“

„Wir können Dir unsere Aufmerksamkeit schenken.“ meinte Nic grinsend.

Hector wand sich „Ja, so, äh, ich hätte da aber eine Idee wie wir an kostenlose – ich betone: kostenlose (!) – Weihnachtsgeschenke kommen könnten. Wir könnten dann kostenlos (!) ausnahmsweise mal unsere Familie zur Weihnachtsfeier damit überraschen und beschenken und wir bräuchten gar keine Gegenleistung zu verlangen, weil wir die Sachen ja kostenlos (!) bekommen haben. Obendrein fällt bestimmt noch eine Menge kostenloses (!) Zeugs ab, dass man gar nicht zu verschenken braucht, also für sich selbst behalten kann“

„Du meinst, du willst Geschenke ‚beschaffen’?“

„Öööööööööööööööööööööööööööööh…“

Nic trat Hector auf den Fuß.

„Autsch! Jau!“

Jetzt wurde die Sache interessant.

Hector wiederholte, dass wie wir doch wüssten, Dienstag nachmittags immer der Postwagen käme. Bei diesem Wetter wäre es doch überhaupt nicht verwunderlich, wenn der Fahrer in unserer abgelegenen nebligen Gegend einen Unfall bauen sollte. Vor allem die Seitenwege waren trotz oder wegen des Tauwetters vielfach vereist und gar nicht ungefährlich zu befahren. Und da man Dinge, die man selber aufbringt, quasi als eine Art Strandgut betrachten könne, würde uns der Postwagen samt Inhalt zustehen, wenn wir gerade zufällig in der Nähe wären um ihn zu bergen.

„Wer’s findet, darf’s behalten!“ schloss Hector und freute sich seines guten Einfalls.

„Und Wiederholen ist gestohlen.“ meinte Nic nachdenklich. Sie suchte Blickkontakt mit mir, um sich mein stilles Einverständnis zu sichern. Nachdem sie es hatte sagte sie zu Hector: „Also wir wären im Team. Wir teilen drei zu eins.“

Das war sichtlich mehr, als Hector sich erhofft hatte: „Spitze! Ist aber auch gerecht, weil ich ja die Idee hatte.“

„Wir verstehen uns leider nicht ganz richtig, Bruder. Du kriegst ein Teil, wir drei Teile.“

Normalerweise wäre Hector jetzt wütend geworden. Da er es aber mit seiner Schwester Nic zu tun hatte, besann er sich eines besseren und jammerte: „Och Menno! Ihr seid nur zwei und jetzt wollt ihr drei Teile? Mir steht normalerweise mindestens die Hälfte zu. Ich habe Frau und Kinder und außerdem war es mein Plan.“

„Weiß deine Frau eigentlich…“ hub Nic an.

„Schon gut, schon gut!“ unterbrach Hector sie sofort und schaute sich um, ob wir allein im Raum waren. „Ist gemacht – drei für euch, eins für mich. Top?“

„Top!“

Wir gaben uns die Hand und tranken einen Kurzen darauf. Dann begannen wir, den Plan etwas genauer auszuarbeiten.

Fortsetzung folgt

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