Horatio XIII

Horatio schrieb:

Friedel auf Erden

Am heiligen Abend waren wir in der Christmette. Der Laden war gerammelt voll. Eigentlich waren so ziemlich alle da, außer H.B.. Sind auch die meisten ansässigen Bauern und Dörfler keine Kirchenmitglieder, so lassen sie es sich dennoch nicht nehmen, an Weihnachten in die Kirche zu gehen. Die einen gehen, um in den Klingelbeutel zu greifen, die anderen gehen um dafür zu beten, dass der Familienkrach am 1. Weihnachtstag nicht zu ernsthaften körperlichen Verletzungen führen wird. Nic und ich gehen, um den Pastor mit unseren Papstmützen zu ärgern. Wieder andere gehen, um sich einfach nur sehen zu lassen und viele sicherlich auch wegen dem Glühweinstand, den der Pfarrer vor der Kirche betreibt. Da der Klingelbeutel und die Kirchensteuer aus gewissen Gründen nicht die erforderlichen Summen erbringen, um die Kosten der Gemeinde zu decken, muss der Tempelvorhof halt zum Markte werden.

Die meisten gehen jedoch wegen des Friedelfestes.

Das ist ein besonderer Brauch, der auf der ganzen Welt so nur in unserer Gegend gefeiert wird. Der Pfarrer ist mit dem Friedelfest eigentlich nicht einverstanden. Seit er hier eingesetzt wurde, wettert er in der Predigt dagegen. Er sagt, das sei ein heidnischer Brauch. Zu Beginn wollte er sogar dem Bischof Bericht davon erstatten, doch Hector, Nics hünenhafter Bruder, überzeugte ihn eines besseren. Nach dem dritten Übergriff auf seine Messdiener durch minderjährige Pannenbeckers vor der Sakristei, zerriss der Pfarrer seinen schriftlichen Bericht feierlich vor Hectors Augen. ‘Feierlich’ hauptsächlich für Hector, versteht sich.

So stehen und sitzen denn alle, langweilen sich und warten auf den großen Moment. Der große Moment ist in der Regel direkt nach dem Schlusssegen. Dann stellt sich ein Gemeindemitglied hinter den Pfarrer und hält ihm einen Dolch an den Hals. Für Uneingeweihte mag das jetzt sicher etwas komisch klingen, aber anders ist der Pastor nicht zu bewegen, dass zu sagen, was wir jetzt alle von ihm erwarten. Meist mit wütendem Blick zwingt er sich dann zu zischen:

“Friedel auf Erden!”

Worauf die Menschenmenge ihm donnernd antwortet:

“Und den Menschen ein Wohlgefallen!”

Darauf gehen die Flügeltore des Haupteinganges auf und in spätmittelalterlicher Seemannskleidung erscheint der Verherrlichte:

Friedel Wohlgefallen.

Tja, und dann gibt es kein Halten mehr, dann geht die Party los. “Frohe Weihnachten” kann man nur sagen.

Künstl(er)i(s)che Pause.

Wir lassen Horatios Briefe an dieser Stelle hinter uns und bewegen uns mal eben gute 600 Jahre in unserer Zeitrechnung zurück.

21. Dezember Anno 1401.

Nebel.

Nichts als undurchsichtiger Dunst seit zweieinhalb Tagen. In dieser lausigen Kälte des späten Nachmittags steht der Anführer am Bug der Zille und starrt in das undurchsichtige Gewabber. Er kann das Wasser vor dem flachen Treidelschiff gerade auf eine Länge von 20 Fuß sehen. Die Männer haben gemurrt, zu unsicher der Ausgang der Fahrt, zu fern der Gedanke an ein Ziel außer dem bloßen Überleben. Doch jetzt sind sie nur noch still, denn die Gräue drückt auf ihre Gemüter. Seit Stunden sprach niemand ein Wort auf dem Lastkahn. Man lauscht dem Ächzen des Holzes, dem Wasser unter dem Boden des Bootes und dem Knarren der Seile, an denen der Kahn von Pferden am Fußufer entlang gezogen wird. Ab und zu dringen gedämpft die Rufe der Männer hinüber, die an Land die Pferde antreiben.

So weit ist es also gekommen. Sie beherrschten die Nord- und die Ostsee, sie nahmen die Insel Gotland, und die Stadt Bergen und sie nahmen die Frauen und das Gold. Reichtümer häuften sie an und verprassten sie wieder. Wimmernd lagen die fetten Kaufmänner Flanderns und der Hanse vor ihnen und flehten um ihr Leben und manchmal gaben sie es ihnen für ein ebenso fettes Lösegeld. Doch dann kam die Bunte Kuh mit ihren Kanonen. Wer hätte gedacht, das die feisten Salzsäcke Hamburgs sich jemals zusammentäten und ihr geliebtes Geld ausgäben um Schiffe und Männer auszurüsten um die Likedeeler endgültig zu vernichten. Wer hätte gedacht, dass Könige und Fürsten, die sie einst mit Kaperbriefen ausstatteten und schützten, sich von ihnen abwendeten. Wer hätte gedacht, dass die freien Friesenhäuptlinge sie verrieten und keinen Unterschlupf mehr gewährten. Wer hätte gedacht, dass Helgoland ihr Schicksal würde und dass die Ratsherren Lange und Schoken sie zusammenschießen und entern ließen. All die Vitalienbrüder gingen auf das Schafott, der Gödeke Michels, der Johann Stortebeker, auch der Hennig Wichmann, Klaus Scheld und Magister Wigbold sowie alle anderen guten Kameraden. Das erfuhren sie in den am Rhein gelegenen Dörfern.

Die Hanse war mächtig, ihre Schwerthand reichte weit ins Land und auf die See. Nirgendwo auf der bekannten Welt würden sie jemals sicher sein. Es war ein Wunder, dass sie es überhaupt bis hierhin geschafft hatten. Hatte man denn überhaupt gemerkt, dass sie entkommen waren und verfolgte man sie noch? Oder waren sie den feinen Herren, die den Sieg davon trugen egal, weil sie sowieso nichts mehr ausrichten konnten? Vielleicht lag es daran, das niemand damit gerechnet hatte, dass sie ins Binnenland fliehen würden, sondern man dachte, sie würden den Weg über die offene See nehmen. Erst recht würde niemand damit gerechnet haben, dass sie den Rhein hinauf fahren würden, man hätte auf die Elbe, die Eider oder die Weser gesetzt.

Monatelang waren sie nun schon unterwegs. Sie hatten die Schiffe gewechselt. Von ihrer Schnigge waren sie auf einen Niederländer umgestiegen und letztendlich fuhren sie auf dieser Zille einen Zufluss des Rheins hinauf. Ungewöhnlich genug, hatten sie dafür gezahlt. Sie wollten nicht durch Raub oder Überfälle unnötig darauf aufmerksam machen, welchen Weg sie genommen hatten.

So weit ist es also gekommen.

Es beginnt leicht zu nieseln. Plötzlich bricht der Nebel auf, es wird gleißend hell. Die Sonne im Rücken lässt voraus einen prächtigen Regenbogen erstrahlen. Das Land zu beiden Seiten des Flusses erscheint trotz des Winters einladend grün und saftig. Weiden und Wälder prangen glitzernd.

Der Anführer trifft eine Entscheidung.

“Claus Pannenbeker! Kersten van Lemming! Jan Hendrick Dröge! H.B.! ‘Der Ire‘! Zu mir!”

Die Männer springen auf. Der Regenbogen erfüllt sie mit Hoffnung.

“Hört mich an, Likedeeler! Mich, euren letzten Anführer, den Friedel Wohlgefallen! Unsere Reise soll hier ein Ende haben! Wir, die Tod und Teufel nicht fürchten, werden hier das Julfest feiern und hier bleiben. Wir werden uns hier niederlassen. Wir werden hier leben und sterben! Sollen sie uns finden, werden wir erhobenen Hauptes im Kampfe sterben. Sollen sie uns nicht finden, werden wir im Bette in Frieden sterben. Doch wir werden nicht mehr weiterziehen!”

“Friedel auf Erden!” ruft “der Ire”, der Seamus O’Hanlon.

Immer wieder ruft er es. Immer wieder, erst zaghaft, dann kräftiger antworten ihm die Männer. Bis es zu einem gewaltigen Chor anschwillt, rufen Friedels zwölf Weggefährten: “Und den Menschen ein Wohlgefallen!”

Dann gehen sie an Land. Sie werden Land nehmen, Frauen finden, Höfe bauen und Felder bewirtschaften. Der Ire wird den Befehl erhalten, das verbliebene Gold zu vergraben, so dass sie eine Rücklage haben werden. Er wird nie zurückkehren. Kersten van Lemming wird sich mit H.B. um eine Grenze streiten und dessen Nachkommenschaft bis ins 283. Glied verfluchen.

Sowie der Ruf “Friedel auf Erden!” als auch die Antwort “Und den Menschen ein Wohlgefallen!” werden in alle Zukunft zur Zeit der Wintersonnenwende erklingen – so lange Menschen diesen abgelegenen Landstrich bewohnen.

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