Horatio XVII/4

Horatio schrieb:

Nun ja, Nic

Nic und ich konnten uns nicht erinnern, wann wir zum letzten mal mit dem Zug gefahren waren, vielleicht als Kinder. Entsprechend waren wir von den scheinbar üblichen Verhaltensweisen der Bahnpassagiere überrascht. Wir nahmen uns vor, deren Sitten und Gebräuche genau zu studieren und dann nachzuahmen, damit wir nicht so auffielen.

Wenn der Zug einfährt, stellt man sich ganz vorne ans Gleis, damit man eine gute Startposition zum Einsteigen hat. Man nimmt dabei möglichst die Grundstellung irgendeiner asiatischen Kampfsportart ein, um möglichst stabil zu stehen und nicht von der nachrückenden Menge auf das Gleis geworfen zu werden. Wenn der Zug hält, blockiert man sofort die Ausgänge, damit die Insassen des Zuges diesen auf keinen Fall verlassen können. Dann hebt man beide Ellbogen etwa auf Gesichtshöhe und drängt mit aller Kraft in den Wagon. Jeder Wagon hält normalerweise (!) zwei Ausgänge zum Bahnsteig hin geöffnet. Durch simple physikalische Gesetze werden im günstigen Fall die Passagiere aus einem der Ausgänge hinausgedrängt und zwar aus jenem, auf den die Kraft der einsteigenden Fahrgäste nicht so stark wirkte wie auf den anderen Ausgang. Im ungünstigen Fall ist einer der beiden Ausgänge defekt … interessant!

Als der Zug losfuhr sahen wir, dass Sanitäter auf dem Bahnsteig auftauchten. Sie waren gekommen um den Mann zu verarzten, dem Nic die Schienbeine gebrochen hatte. Dann stürmte auch Polizei hinzu. Wahrscheinlich nahmen sie den Typen fest, weil er einfach Frauen am Bahnhof anquatschte und beleidigte.

Wir fuhren schneller und meine Gedanken streiften in die Vergangenheit. Ich dachte darüber nach, wie es dazu kam und welche Umstände aus Nics Vita sie in die Lage versetzten, sich derartig gegen solche Flegeleien zu wehren. Und das kam so.

Als Nic schätzungsweise neun Jahre alt war…

… nun, genau weiß man es eigentlich nicht. Da ihre Geburt mit denen ihrer älteren Brüdern zusammen dem Standesamt gemeldet wurde, als ihre Eltern gerade mal in die Stadt gefahren waren waren, kann man so plus minus zwei Jahre rechnen. Dem Umstand verdankt ihr einige Jahre älterer Bruder Hector, dass er dem offiziellen Geburtsdatum nach nur fünf Monate älter ist als Nic. Der Standesbeamte bemerkte Nics Eltern gegenüber, dass das ja wohl nicht möglich sei. Darauf fragte ihn der Vater, ob er denn etwa dabei gewesen sei, was der Beamte verneinte. Da sähe er mal, dann könne er das ja wohl auch nicht wissen oder behaupten. Dann deutete der Staatsdiener in umständlichen Worten durch die Blume an, damit er das durchgehen lasse, müsse man ihn schmieren. Woraufhin Nics Vater meinte, er könne ihm mal eine schmieren. Darauf rief der Beamte die Schmiere. In der Verhandlung stand Nics Vater ein Sozialarbeiter zur Seite, der ein Gutachten abgab, dass es sich um Diskriminierung der Landbevölkerung handele. Der Beamte habe sich offensichtlich deshalb so besonders fehlverhalten, weil Nics Mutter bei dem Amtsbesuch ein Kopftuch getragen habe. Er hätte wohl äußerst vorurteilsbehaftet gehandelt. Die Richterin namentlich Anne Lisa Maren Winkler-Teilemann-Sethe sprach Vater Pannenbecker von den Vorwürfen der Beamtenbeleidigung und der wiederechtlichen Drohung frei und entschied obendrein, dass die von Pannenbeckers angegeben Geburtsdaten als rechtmäßig zu betrachten seien. Fürderhin wurde gegen den Beamten ein Disziplinarverfahren angestrengt.

Ich bin etwas abgewichen. Als Nic also schätzungsweise neun Jahre alt war, stritt sie sich einmal fürchterlich mit Hector. Hector schlachtete deswegen heimlich ihr Kaninchen und sagte ihr nicht, dass das Sonntagsmittagessen aus ebendiesem bestand. Zumindest sagte er es ihr nicht vorher. Nachdem sie sich erbrochen hatte, bis nur noch Galle kam, lief sie weinend immer weiter in den Wald heinein und verlief sich schließlich. Sie wurde nach einigen Tagen von Mönchen gefunden. Der Schock hatte sie jedoch stumm gemacht und so konnte sie den Mönchen nicht sagen, wer sie war, wie sie hieß oder wo sie herkam. Zwar ließ man in der Gegend fragen, ob jemand ein Mädchen vermisse, aber erstens war gerade große Kartoffelernte und zweitens, wie soll man sagen? Wenn ein Erstgeborener einer Person weniger den Pflichtteil auszahlen muss, gilt das bei uns allgemein nicht unbedingt als Unglück.

Die Mönche, die Nic aufgelesen hatten, stammten vom Kloster Dollys Haus der Freude des heiligen Ergo von Von. Dieses bei uns wohlbekannte, mit außergewöhnlich gutem Ruf behaftete Kloster wurde übrigens erbaut nach den Originalplänen von Leonardo da Vinci. Der Ergo von Von war ursprünglich ein Wegelagerer, der eines Tages an der Lippe einen Reisenden überfiel, der sich als Cesare Borgia ausgab. Er nahm ihm nicht nur alles Geld, zwei Mitras und einen Stapel Papier weg, sondern da der Überfallene meinte, er sei sowas wie ein Bischof, mußte er dem Räuber auch noch bei seinem Leben und seiner Seele versprechen, beim Papst dafür zu sorgen, das Ergo von Von heilig gesprochen würde. Ergo von Von führte zunächst weiterhin sein schandhaftes Dasein, bis ihn eines Tages ein Bote des Papstes erreichte um ihm mitzuteilen, dass er nun heilig sei. Daraufhin änderte Ergo aprupt sein Leben. Nun etwas wenigstens. Bei dem Stapel Papiere, die er dem Borgia abgenommen hatte, handelte es sich um alle heute angeblich verschollenen Werke Leonardo da Vincis. Aufgrund dieser Zeichnungen ließ Ergo von seinem erbeuteten Gold ein prächtiges Kloster erbauen, dass er Dollys Haus der Freude nannte, weil die Freude hier stets zuhause sein sollte. Das besondere an diesem Kloster war, was es auch von so ziemlich allen anderen Klöstern auf der Welt unterschied, dass hier sowohl Mönche als auch Nonnen die Abgeschiedenheit des Klosterlebens genießen durften.

Die Geschlechtertrennung machte in den Augen des heiligen Ergo keinen Sinn, außerdem dachte er sich: “Ich bin heilig. Was kann man mir schon?” Rasch fand er Anhänger und Anhängerinnen, die ihm folgten, darüberhinaus war es damals wie heute möglich, sozusagen einen “Schnupperkurs” im Kloster zu absolvieren, das heißt man konnte sich eine Zelle in dem Kloster wochen-, tage- oder auch stundenweise mieten um das freudige Klosterleben einmal kennenzulernen. Gegen eine gewisse Spende für die Klosterkasse, vertsteht sich.

Der Heilige Ergo von Von als erster Abt des Klosters wurde berühmt wegen seiner innovativen Erfindungen wie der nach ihm benannten Ergotherapie, dem Ergometer, der Ergonomie und dem Spiel “Mensch Ergoro Dich Nicht!” Leider war er auch ein Klugscheißer und nahm ein unrühmliches Ende. Er pflegte die unangenehme Angewohnheit zu haben, seine Sätze etwa so zu beenden: “…ergo bin ich der Boss!” oder “…ergo habe ich immer Recht!” Deswegen brachten ihn seine Mitmönche und Mitnonnen eines Tages um. Das letzte was er hörte, sollen die Worte: “Nein, nein, ich versichere Euch, es sind ausschließlich Steinpilze!” gewesen sein.

Über die Jahrhunderte entwickelte man im Kloster Dollys Haus der Freude des heiligen Ergo von Von eine ganz besondere und einzigartige Kampftechnik, die alle bekannten Martial Arts des Globus vereinigt und verbessert hat und darum die beste auf der der ganzen Welt ist. In erster Linie ist sie wirksam durch ihre pragmatische Philosophie, welche sich zum Beispiel die Frage stellt: “Warum soll ich mühsam jemand mit Handkantenschlägen und Tritten fertigmachen, wenn ich ihn auch erschießen kann?” Jedoch erfordert sie nichtsdestotrotz natürlich jahrelanges Training und Unterweisung durch einen Meister, Großmeister oder noch darüber den Waldmeister, der einen auch die Demut lehrt. Offen gesagt, nicht weil sie einem den größten Nutzen bringt, sondern weil er einfach ein abartiger Sadist ist.

Diese beste Kampfkunst aller Kampfkünste heißt übrigens Haidi Haido Hai Da. Im Gegensatz zu dem weitaus ineffektiveren Haidi Haidi Ho, dass mehr auf sanfte Verteidigung ausgelegt ist, geht es bei Haidi Haido Hai Da darum, dem Feind soviel unnötige Schmerzen wie möglich zuzufügen. Sie ist auch die einzige derartige Kampfkunst, bei der man nicht die Trainerlizenz verliert, wenn man sie ohne dreimalige Vorwarnung im Straßenkampf anwendet. Das liegt daran, dass wenn man jedesmal bevor man sich wehrt, den langen Satz sagen müsste: “Ey, pass auf! Ich kann Haidi Haido Hai Da!” ja, dann kann man sich denken, dass einen der Gegner in der Zwischenzeit schon in aller Ruhe in die Einzelteile zerlegt hat.

Sehr bekannt sind auch die im Kloster ausgebildeten sogenannten Nunja. Die Nunja sind eine Kämpferelite, die besonders im lautlosen Töten kunstfertig sind. Der Name der Nunja rührt von ihrem obligatorischen Abschiedsgruß her: “Nun ja, jeder muss mal sterben.” und man sagt, ein Nunja kann quasi alles zu einer tödlichen Waffe machen, sogar ein Papiertaschentuch oder warme Luft.

Nic brachte in dem Kloster etwa vier Jahre zu. Man gab ihr zu essen und zu trinken, sang und las ihr vor und versuchte vorsichtig alles was im Bereich des Möglichen lag, um ihre schreckliche Schwermut zu vertreiben. Sie sprach jedoch nie ein Wort. Wenn die Mönche und Nonnen Haidi Haido Hai Da trainierten, wenn die Nunja ihre unglaublich schwierigen Übungen machten saß sie stets nur dabei und schaute mit glasigen Augen zu. Keiner beachtete sie, es war irgendwann normal, dass sie da war.

Dann, nachdem vier Jahre vergangen waren, eines sonnigen Tages als die Kirschbaüme blühten, stand sie auf, ging auf den großen Waldmeister der Nunja zu und sagte leise aber deutlich und für jeden Anwesenden hörbar: “Ich fordere Dich heraus.”

Der Waldmeister starrte sie erst ungläubig an. Dann begann er zu lachen, lauter und immer lauter. Er lachte und lachte, er lachte bis er schrie. Es dauerte eine Weile, bis die Nunja-Schüler bemerkten, dass er schrie, weil Nic weggegangen war.

Dabei hatte sie außerdem seine Hoden mitgenommen.

Nic wurde anschließend gebeten, das Kloster zu verlassen, wenn auch auf äußerst höfliche Art und Weise. Es klang ungefähr so: “Es scheint, als habest Du Deine Ausbildung allein durch Meditation vollendet. Voller Bewunderung sind wir für Deine Erhabenheit. Magst Du nicht der Welt da draußen davon künden?”

“Ich weiß schon, wem ich was verkündigen werde!” brummte Nic damals.

Dann machte sie sich auf den Weg zurück zum Hof der Pannenbeckers.

Soviel sei noch gesagt: Es gibt Dinge, über die Hector nie sprechen wird und die wir nie wissen wollen. Nein, glauben Sie mir, wollen wir nicht!

Nun ja, und das ging mir halt alles so durch den Kopf, als der Zug schneller wurde.

Fortsetzung folgt

1 Comment

  • Stephan sagt:

    Ich weiß ja nicht woher Du die ganzen Ideen bekommst, aber ich habe mich gerade echt schlapp gelacht. …” Achtung, da vorne ist ein gefährlicher …Nun ja, zu spät… Hö,hö… “

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